(Ja, ich weiß, griffiger Titel.)
Robin Williams ist tot. Am 11. August 2014 hat sich der depressive und alkoholkranke Schauspieler das Leben genommen und die Welt war schockiert. Mir hat er damals als „Mrs Doubtfire“ viele heitere Stunden beschert, und auch Machwerke wie „Jumanji“, „Flubber“, „The Big White“ und „Patch Adams“ begleiteten (und erheiterten) mich beim Erwachsenwerden. Ich werde wirklich traurig, wenn ich mir sein melancholisches Lachen ansehe – und ich fühle mit, mit einem Depressiven, in einer Welt, in der man als psychisch Kranker stigmatisiert wird. In der man ein Tabu bricht, wenn man darüber spricht und allenfalls gesenkte Blicke erntet. Der „Depression ist doof“-Hype nach seinem Suizid war erwartungsgemäß nach drei Tagen vorbei, doch gerade deswegen will ich mich heute diesem Thema ausführlich widmen.
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Die Kernthese, die diesbezüglich normalerweise vertreten wird, ist die, daß in einer Leistungsgesellschaft Ausfälle durch psychische Erkrankungen nicht tolerabel sind. Jeder muß funktionieren, seinen Teil zur intakten Volkswirtschaft beitragen und darf nicht negativ auffallen. Dem stimme ich auch in großen Teilen zu, doch ich sehe nicht, wieso die psychische Erkrankung hier eine Sonderrolle einnehmen sollte. Jemand, der Krebs oder Multiple Sklerose hat, fällt genauso aus wie ein psychisch Kranker, erregt aber nicht dieselbe Art von Aufsehen. Psychisch Erkrankte sind stigmatisiert und waren es über die Jahrhunderte hinweg. Die Rolle, die Metaphysik meiner Meinung nach dabei spielt, erlaube ich mir im Folgenden zu beleuchten.
Beginnen wir ganz plump: Sigmund Freud hielt Religion für eine
kollektive Zwangsneurose, für eine Hinwendung zu imaginären und aufgeplusterten Vaterfiguren, um die eigene, als kindlich empfundene Ohnmacht zu überwinden.
„Wenn nun der Heranwachsende merkt, daß es ihm bestimmt ist, immer ein Kind zu bleiben, daß er des Schutzes gegen fremde Übermächte nie entbehren kann, verleiht er diesen die Züge der Vatergestalt, er schafft sich die Götter, vor denen er sich fürchtet, die er zu gewinnen sucht und denen er doch seinen Schutz überträgt.“ – S. Freud
Religion ist für viele Atheisten, wie auch für mich, zumindest eine kollektive Märchenstunde, das Sich-in-Sicherheit-Wiegen der Menschen, die mit der Ungerechtigkeit der Welt, dem Imperativ des Sterbens, den Verlusten und Enttäuschungen des Lebens und der Liebe nicht zurechtkommen. Sie ist ein Fangnetz und erstellt eine psychische Grundkonfiguration, die den Betroffenen auch für wahnhafte Vorstellungen empfänglich macht. Allzu bunte „Gotteserfahrungen“ sind in den Bereich des Wahns einzuordnen (man beachte hierzu die Kategorisierung laut
ICD-10).
Religion kann also psychische Erkrankungen direkt (mit-)auslösen. Doch wie sieht es indirekt aus? Die Hälfte meiner Familie stammt „vom Land“, aus einem kleinen Dorf in Bayern, wo es erzkatholisch zuging. Die Schulausflüge gingen gern ins Heimatmuseum, wo die Foltermethoden und Todesarten, welche die Heiligen erlitten, graphisch und plastisch dargestellt wurden. Kinder wurden darauf getrimmt, dass viele ihrer Taten und einige ihrer Gedanken (!) sündig und unrein seien und zur Beichte genötigt. Ein freudloses und gottesfürchtiges Leben ohne Sex oder Eskapaden wurde als Ideal angesehen; der Todeskult des Christentums tat sein Übriges. Kinder wurden sexuell und psychisch missbraucht und waren in den Fängen von Tradition und Konvention. Generationen depressiver Menschen mit leidendem Selbstbild sind auf diese Weise großgezogen worden, die sich im Angesicht Gottes als schmutziges Nichts vorkommen. Für Frauen galt das natürlich auf besondere Weise, waren sie ja nur Gebärstationen und das unwürdige Rippenderivat des Mannes. Homosexuelle mussten ihre Neigungen geheim halten, sonst wären sie Opfer von Diskriminierung und Hass geworden. Dies ist teilweise in Deutschland und besonders im ultrakonservativen Bible Belt der USA auch noch heute der Fall: nachdem ihre Psyche sich an der Grenze zur Zerrüttung befand und ihr Körper bereits Alarm schlug, outete sich die christlich-amerikanische Popsängerin
Vicky Beeching vor Kurzem als lesbisch. Homosexuelle Teenager werden in den USA in religiösen
Camps mit Exorzismen und Elektroschocktherapie „behandelt“, um ihnen die Homosexualität auszutreiben. Ich nehme nicht an, dass man derartiges psychisch unbeschadet übersteht.
Wie geht und ging Religion denn nun mit psychisch Kranken um? Ich beziehe mich hier vor allem auf den christlichen Kulturkreis, da ich in anderen nicht besonders bewandert bin. Im frühen Mittelalter führte man den geistigen Zustand psychisch Erkrankter natürlich auf die Besessenheit von Dämonen oder gar Luzifer persönlich zurück. In dieser Zeit war vornehmlich die Behandlung per
Exorzismusüblich: ein psychisch aufreibendes, brutales Ritual, das viele Opfer das Leben kostete. Doch so mittelalterlich das nun auch anmuten mag: diese Behandlung für „Geisteskranke“ ist bis heute noch üblich in manchen Regionen Deutschlands. Psychisch Erkrankte für „vom Teufel besessen“ zu halten trägt natürlich ein wenig zu deren Stigmatisierung bei.
Gern wurde die Erkrankung auch als Strafe Gottes (oder milder: als dessen Prüfung) angesehen. Im Spätmittelalter und zu Zeiten der
Inquisition stand damit eine andere „Behandlungsmethode“ auf dem Plan: der Tod auf dem Scheiterhaufen. Wer von Gott bestraft worden oder von Dämonen eingenommen war, mußte bestraft und öffentlich getötet werden. Man stelle sich die Lage der Erkrankten vor: glaubten sie selbst, daß Gott sie bestrafen wollte? Bereiteten sie sich auf die Ewigkeit in der Hölle vor? Wie muß es ebenfalls erkrankten Zuschauern gegangen sein?
Heutzutage sieht die Behandlung dieser Krankheiten durch religiöse Personen oder Einrichtungen etwas weniger martialisch, doch ebenso fragwürdig aus – die beste Therapie für Angst- oder Zwangsstörungen, für Depressionen und Psychosen sei demnach der Glaube an Gott selbst. Wer nur stark genug bete und an ihn glaube, wer durch Gott stark genug sei, der finde auch von allein den Weg in die Gesundheit. Nicht nur, daß erkrankte Menschen damit als schwach und zu wenig gottesfürchtig abgestempelt werden (Stigma), ihnen wird auch die korrekte medizinische Behandlung versagt.
Aber macht Religion nicht gesund? Ist sie nicht gut für die Psyche? Es ist schwer, das rundheraus zu beantworten. Ich habe selbst ambivalente Erfahrungen mit Religion gemacht: ich bin katholisch aufgewachsen und habe ein ewiges Leben für selbstverständlich gehalten, darauf gehofft, all meine Lieben wiederzusehen und mich auf Gott als Schaffenden der Gerechtigkeit verlassen.
Als ich schließlichnicht mehr glauben konnte, riss mir das den Boden unter den Füßen weg. Doch wie gut für die Psyche ist das Versprechen vom ewigen Leben? Ermuntert es nicht dazu, weniger sorgfältig mit dem umzugehen, was wir haben? Seitdem ich mich
mitmeiner Endlichkeit auseinandergesetzt habe, hat für mich alles an Wert gewonnen. Die Stunden des Glücks, der Liebe, der Empfindung, ja sogar die der Trauer und Melancholie.
Unter der „Aufsicht Gottes“ war ich nie frei, habe ich mich stets beobachtet und oft sündig gefühlt, manchmal schlecht und ketzerisch. Dieses Gefühl, ein ganzes Leben lang, ist ein hoher Preis für ein Auffangnetz, das am Ende womöglich gar nicht existiert. Wie es unterdrückten Frauen, Homosexuellen, psychisch Erkrankten und anderen von der Kirchendoktrin Benachteiligten unter den Augen des restriktiven, kontrollwütigen und allmächtigen Gottes gehen muß, wurde weiter oben schon ausgeführt.
Wie handhabt es nun das Feld der Esoterik? Nun, um es mit Fontane zu sagen: dieses Feld ist ein weites und es ist unmöglich, es in seiner Gänze zu erfassen. Der Tenor aber scheint in vielen Bereichen ähnlich zu sein.
Ich beginne mit meinem Steckenpferd: der Homöopathie. Als Pharmaziestudentin habe ich ein besonderes Interesse an guter, effektiver und korrekter Medikation, wie ich sie z. B. in Psychopharmaka sehe. Hahnemann-Jünger vertreten da offenbar eine andere Ansicht – da gibt es zahlreiche Wässerchen gegen Depression (Pikrinsäure, Kaliumphosphat, Natriumcarbonat oder reiner Schwefel, natürlich in „Potenzen“ jenseits der Nachweisbarkeitsgrenze), Angststörungen (Silbernitrat, reines Silber, Arsenik, Iod..), Schizophrenie (
Behandlungsbericht) oder sogar bei Kindesmisshandlung (
Klick). Das Problem hier ist ähnlich wie die oben genannten: dem Patienten wird eine medizinisch angemessene und wirksame Therapie verweigert; er bleibt de facto untherapiert und wird dafür viel Geld los. Gerade bei wahnhaften oder suizidalen Patienten ist das skandalös. Natürlich bietet so gut wie jede „alternative Therapierichtung“ Hilfe bei psychischen Erkrankungen an, die in den allermeisten Fällen nicht durch Evidenz gesichert ist und den Patienten Zeit, Geld und Ressourcen kostet, die anders besser verwertet wären.
Die andere Seite ist zum Beispiel im Buch „
The Secret“ von Rhonda Byrne vertreten. Dieses sehr erfolgreiche Buch propagiert ein Modell der Wirklichkeit, das bei Esoterikern sehr beliebt ist: man muß Dinge nur stark genug wollen, dann geschehen sie auch. Das Universum ist auf unsere Wünsche und unseren Willen angewiesen – wer also depressiv wird oder Wahnvorstellungen bekommt, ist selbst schuld, da er nicht stark genug war, da er nicht gesund sein wollte. Diese Person hat also vom Universum nur das bekommen, was sie verdient. Dieser Zug ist den oben erwähnten Problemen mit Religion sehr ähnlich und das ist kein Zufall: für viele ist Esoterik auch nur eine Ersatzreligion unter anderem Namen und anderen Grundvoraussetzungen. Ob nun die Liebesengel mich bestrafen oder ich nicht für genug Orgonstrahlung in meinem Trinkwasser gesorgt habe – die negative Botschaft für den Erkrankten bleibt dieselbe und Heilung kann er ohnehin nur erreichen, wenn er dem Diagnostizierenden größere Batzen Zasters aushändigt.
Es gibt jedoch noch ein größeres Problem, das ich im Zusammenhang mit metaphysischen Konzepten bei psychischen Erkrankungen sehe – genau diese Metaphysik generiert, ganz für sich genommen, das für die Betroffenen so bittere und giftige Stigma. Ich will erklären, wie und damit auch die Frage beantworten, die ich zur „Leistungsgesellschaft“ gestellt habe. Für den Religiösen oder den Esoteriker ist der „Geist“ etwas Ätherisches, etwas Übernatürliches, über die Materie erhaben, unser „Spirit“, unsere Verbindung zu Gott oder spirituellen bzw. göttlichen Kräften. Für „Materialisten“ wie mich (ich würde es lieber „Scientisten“ nennen) ist das nicht so (wobei hier die Frage ist, ob die scientistische Ansicht meinen Atheismus oder die atheistische Einsicht meinen Scientismus bedingt hat). Der „Geist“ und jeder Gedanke, jedes Gefühl, das sich aus ihm erhebt, sind für mich das Produkt von neuronalen Verschaltungen und Impulsen. Für mich ist Liebe ein hormonell-neuronales Feuerwerk und eine Erinnerung ruht in einer bestimmten Synapse. Es gibt keinen Grund anzunehmen, daß es anders wäre (Anm.: sich zu wünschen, daß es anders wäre oder nicht zu akzeptieren, daß alles Gefühlte und Gedachte nur Resultat äußerst ausgeklügelter neuronaler Bauwerke zur Weiterleitung elektrischer Impulse ist, zählt nicht). Geist ist Körper und Körper ist Geist: eine Darmerkrankung unterscheidet sich für mich prinzipiell nicht von einer Zwangsstörung. Die Psyche ist ein Konstrukt, das uns übernatürlich erscheint, und die gegenseitige Beeinflussung von „körperlichen Erkrankungen“ und psychischem Zustand scheint für viele (auch Ärzte) immer noch schwer zu akzeptieren. Diese fehlende „Ganzheitlichkeit“ ist der Grund, weshalb viele den Weg weg vom Arzt und hin zum alternativen Heiler einschlagen. Hörte man auf, die Feststellung, das der Geist nichts weiter als ein Produkt ist, das sich aus der zellulären und molekularen Konfiguration unseres Gehirns ergibt (daß wir die Vorstellung zunächst gruselig finden, hängt natürlich auch mit unserer religiösen Prägung und deren Vorstellung des dadurch erhabenen Geistes zusammen), hätten wir endlich einen wertvollen Schlüssel zum richtigen Umgang mit Patienten, ob diese nun „körperliche“, somatische oder psychische Leiden haben.
Doch zurück zum religiösen Problem: weil die Psyche, die „Seele“, der „Geist“ uns als übernatürlich und Tor zu Gott oder der Spiritualität, kurz: als vom Körper verschieden beigebracht wird, neigen wir zur Stigmatisierung der Menschen, die von solchen Leiden betroffen sind. Die Psyche ist „etwas anderes“ als der restliche Körper, sie ist die Kommandozentrale des Menschen, der Filter, durch den er alles wahrnimmt. Wenn sie gestört ist – oder: wenn die Brücke zu Gott, der Empfänger der Spiritualität, das, was uns über das Tier erhebt gestört und beeinträchtigt ist, hat das für den Normalbürger ein „Gschmäckle“. Die Psyche als metaphysisches Konstrukt ist das Problem, das uns nicht erkennen lässt, dass eine Wahnvorstellung ein ebenso funktionelles Problem ist wie ein Herzinfarkt. Und das hat nur sehr bedingt mit der „Leistungsgesellschaft“ zu tun…
Die Stigmatisierung würde jäh abklingen, wenn das Verständnis von psychischen Krankheiten als ganz normale körperliche Erkrankungen, nur in einem sich anders auswirkenden Bereich, etabliert würde. Bei psychichen Erkrankungen lässt sich ebenso intervenieren wie bei „körperlichen“ – durch Operationen (nein, ich meine keine Trepanation, wie sie im Spätmittelalter auch gern von der Kirche bei psychisch Kranken durchgeführt wurde), durch medikamentöse Therapie (ein Stoffwechselweg ist gestört – ein Medikament sorgt für dessen Substitution oder Unterstützung), durch somatische Therapie (denn auch Gesprächstherapie oder Meditation haben messbare Auswirkungen auf die neuronale Konfiguration). Eine Darmerkrankung kann ich operieren, ich kann entzündungshemmende Medikamente geben, ich kann den Stress reduzieren, um die Erkrankung zu bremsen. Bei einer Depression kann ich ebenso neurochirurgisch vorgehen, ich kann Medikamente geben, um den Serotoninstoffwechsel zu normalisieren oder ich kann eine Gesprächstherapie anbieten. Es ist das Gleiche, nur mit anderen Auswirkungen. Es gibt viele gute Medikamente, die psychisch Erkrankten so helfen könnten. Leider kennen sich viele Ärzte anderer Fachrichtung mit diesen Medikamenten und ihren Interaktionen nicht besonders gut aus, und das bei 5% Antidepressiva-Patienten in Deutschland (und über 10% in den USA). Das ist traurig und spricht einmal mehr für die Tabuisierung psychischer Erkrankungen. Dabei könnte ein Umgang auf Augenhöhe so viel bewirken. Was nicht hilft, sind Verweise auf Gott, die Engel oder der dezente Hinweis, sich doch mal zusammenzureißen. Würden wir das doch endlich erkennen und das Leid vieler psychisch Erkrankter mildern – und ihre gesellschaftliche Akzeptanz steigern. Ganz ohne Metaphysik, dafür mit ganz viel Mitgefühl.